Dienstag, 4. Juni 2013

Ernst Wenck (1865–1929): „Der Weg des Menschen von der Geburt bis zum Tod“. – Ein Sepulkralrelief als Bauschmuck am Alten Friedhof der St.-Nikolai- und St.-Marien-Gemeinde zu Berlin.



Abb. I: Ernst Wenck: „Der Weg des Menschen von der Geburt bis zum Tod“. Skulpturaler Bauschmuck am Hauptportal des Alten Friedhofs der St.-Nikolai- und St.-Marien-Gemeinde in Berlin. Fotografie/Ausschnitt vom 13. April 2013, ©Nicky Heise.

Im Giebel des nordwestlich gelegenen Hauptportals des Alten Friedhofes der St.-Nikolai- und St.-Marien-Gemeinde an der Prenzlauer Allee Nr. 1 hat sich ein von Ernst Wenck stammendes Relief mit dem anzunehmenden Titel „Der Weg des Menschen von der Geburt bis zum Tod“ erhalten. Das Bildwerk ist an seiner steinernen Rahmung unten links mit „FEC. ERNST WENCK“ bezeichnet bzw. signiert.

Abb. II: Ausschnitt der Bezeichnung bzw. Signatur unten links, auf  Ernst Wencks: „Der Weg des Menschen von der Geburt bis zum Tod“. Fotografie/Ausschnitt vom 13. April 2013, ©Nicky Heise.

Die einzelnen Figuren und Figurengruppen wurden vom Bildhauer aus separaten Steinen als Relief und zu einigen Teilen, über das Halbplastische hinaus, nahezu vollplastisch gearbeitet.

Das Relief zeigt, von rechts nach links betrachtet, zuerst die Sitzfigurengruppe einer „Mutter mit Säugling“, dann kommt eine „zurückblickende, erste Schritte wagende, Kinderfigur“, danach eine „im Schreitschritt nach vorne begriffene Figur eines jungen Mannes“, darauf eine sitzende Figurengruppe eines sich „liebevoll zugeneigten Menschenpaares“, dann wiederum eine Figur eines voll ausgereiften, athletischen Mannes und schließlich eine aus einzelnen Figuren bestehende Gruppe, einer sich zu einem ganz links im Bild vor Lebensmüdigkeit da niedergesunkenen alten Mannes vorbeugende Greisin.

Ernst Wenck konzipierte seine Vorstellung einer Darstellung der Alters- oder Lebensphasen des Menschen in sechs Stufen:

Eine kniende Mutter hält in ihrem rechten Arm einen Säugling auf dem Schoß und nähert sich mit ihrem Mund sanft dem leicht gesenktem Köpfchen des Kindes. Mit der linken Hand fasst sie prüfend ihre linke Brust. Sie könnte im Begriff sein, ihr augenscheinlich eingenicktes Kleinkind wecken und stillen zu wollen. Das Kind kann aber auch gerade gestillt worden sein und nun erschöpft im Schoß der Mutter verweilen. Allenfalls die Ausführung der Kinderfigur auf dem Schoß der Mutter erinnert die Betrachtenden noch an tradierte Darstellungen der „heiligen Maria mit dem Kind Gottes“; diese Mutter, abgebildet in leicht eingedrehter Seitenansicht, scheint jedoch der Antike entlehnt zu sein. Das erste Teilstück des Reliefs wurde von Wenck noch recht flach ausgearbeitet.

Als Zweites ist eine Kinderfigur zu identifizieren; das Kind in einem symbolischen Vorwärtsschritt begriffen, blickt, den Oberkörper nach links eingedreht und den linken Arm zur Mutterfigur hin ausgestreckt, zu ihr zurück. Vielleicht fallen die allerersten Schritte noch wackelig und etwas unsicher aus, doch die zu erahnende und zunehmende Eigenständigkeit des kindlichen Vorwärtsschrittes sowie eine allmählich daraus resultierende Distanz zum ersten Lebensabschnitt wird im Relief durch Natur nachbildenden Hinter- und Untergrund noch verstärkt. Zudem ließ der Bildhauer die Körperkonturen der etwas solitären Kinderfigur bereits stärker als bei der vorangegangenen und flacheren Figurengruppe aus dem Relief hervortreten.

Als Drittes hebt ein, mit dem rechten Bein voran, im Schreitschritt befindender junger Mann seine rechte, leicht geöffnete Handinnenfläche, fast einem Spiegel gleich, vor sich an. Es scheint gerade so, als wolle er das einfallende Licht der Sonne fassen. Vermutlich wird er sich der „göttlichen Kraft des  Lichtes“ sowie seiner Rolle als Mensch im Fluss der Zeit bewusst. Bekleidet ist der Dargestellte mit einer leichten Gewandung, die, über seine linke Schulter geworfen, vor und hinter ihm hinunterfällt. Der Körper des jungen Mannes wurde von Wenck ab etwa der Höhe der Knie nahezu vollständig von der Fläche des Reliefs abgelöst. Die Körperhöhe der Figur füllt von unten her gesehen die Gesamthöhe des Bildwerkes aus.

Im Zentrum des Bildwerkes positionierte Wenck ein auf sprödem Felsen sitzendes Liebespaar, wie es im Formenkanon der Bildhauerei um 1900 häufiger vorzufinden war. Oberhalb des Paares befindet sich die mit einem Kreuz versehene Sonne, welche als Symbol der Kraft Gottes und ihren unvergänglichen Lebens- und Liebesglanz aufgefasst werden kann. In der Antike glaubten die Menschen, dass die Sonne nachts das Totenreich durchwandere.

Die fünfte Phase des Daseins gestaltete der Bildhauer als Personifikation eines athletischen und bärtigen Mannes in Frontansicht. Der Dargestellte stützt seine rechte Hand auf seinen rechten Oberschenkel, seine Linke hält er zur Faust geballt auf seiner Hüfte. Er schaut sich erinnert auf das Menschenpaar zurück.

Ganz links auf dem Relief beugt sich eine Greisin mit ihrem ausgestreckten rechten Arm zu einem vor ihr müde darnieder gesunkenen alten Mann. Der alte Mann lässt seinen Kopf und seine Glieder ermattet hängen. Selten ist die paarhafte Darstellung des hohen Alters in der Bildhauerei um 1900, und in diesem Falle ist sie wohl auch der Gesamtdarstellung geschuldet. An dieser Stelle sei an die solitäre Figurengruppe „Adam und Eva am Ende des Lebens“ (1898) von Gustav Eberlein erinnert. Diese Vollplastik stellt eine der wenigen frei entstandenen Arbeiten zu diesem Thema dar. Das damals zu realistisch wirkende Werk wurde auf allerhöchsten Befehl von der Großen Berliner Kunstausstellung 1900 aus der Aufstellung entfernt.[1] 

Abb. III: Gustav Eberlein (1847-1926): „Adam und Eva am Ende des Lebens“ (1898), Quelle: Prof. R. Grimm.

Ernst Wenck wusste in seinem Bildwerk „Der Weg des Menschen von der Geburt bis zum Tod“ den Formenkanon von antikischem Idealismus und Realismus zu vereinigen.

Ernst Wenck besuchte von 1885 bis 1889 die Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums und die Akademie der Bildenden Künste in Berlin.[2] Als einer der Berliner Bildhauer ersten Ranges war er ab der Mitte der 1890er-Jahre auch an Planungen für ein kolossales „Bismarckdenkmal“ in Hamburg-Blankenese beteiligt.[3]

Zu seinen bekanntesten frei entstandenen Arbeiten gehört unter anderem das in seiner Zurückhaltung auffallende Bewegungsmotiv „Trinkendes Mädchen“, das 1904 auf der Großen Kunstausstellung von Dresden vertreten war.[4] Eine 1901 gefertigte, 76 cm hohe Fassung in Carrara-Marmor befand sich in der Alten Nationalgalerie von Berlin und gilt heute als verschollen.[5]

Der Bildhauer war Mitglied der Berliner Sezession und fand seine letzte Ruhestätte auf dem Alten Friedhof der St.-Nikolai- und St.-Marien-Gemeinde. Seine Grabstätte wurde allerdings nicht erhalten. ©Nicky Heise, Berlin.

Weiterführende Literatur:
August Grisebach: Bemerkungen zu plastischen Arbeiten von Ernst Wenck. In: Die Kunst für Alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur. Bd. 31. 1915-1916. Heft 9/10, 1. Februar 1916, S. 181-189. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kfa1915_1916/0200?sid=2279e5dfeff56ce2d8105397a6a6d5f4 




[1] Gustav Eberlein (1847 – 1926). Im Blickpunkt 35. Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Kuppelhalle, Juli – Oktober 1989. (Quelle: Prof. Rolf Grimm)
[3] Jörg Schilling: „Distanz halten“ – Das Hamburger Bismarckdenkmal und die Monumentalität der Moderne. Wallstein Verlag, 2006, S. 43 f und Anm. 75, S. 77.
[4] Illustrierte Zeitung, Nr. 3203, 17. November 1904, S. 741 f.

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